Bergfahrt in die Unterwelt

Neue Gänge in der »Höhle beim Spannagelhaus« im Tuxer Hauptkamm der Zillertaler Alpen, anläßlich des ÖTK-Eiskurses 1970 entdeckt.

»Wenn´s dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen!«
In meinem Fall heißt das: Er leitet einen Eiskurs. Was aber ist zu tun, wenn andauerndes Schlechtwetter den Tanz auf dem Eis vereitelt; wenn´s dem Esel auf dem Eis zu kalt wird? Die Frage ist einfach zu lösen: Ausweichziel Spannagelhöhle! (Siehe auch »ÖTZ«, Jänner 1960, Seiten 5 und 6: »Eine Naturhöhle im Tuxer Hauptkamm der Zillertaler Alpen«, von unserem Klubmitglied Rudolf Radislovich. Besonders hingewiesen sei auf das sehr informative Photo, das diesem Bericht beigefügt ist.)
Zu acht rücken wir zur Befahrung dieser, mit dem Prädikat »Naturdenkmal« ausgezeichneten Höhle aus. Die größte Höhle Tirols! Wie groß, das sollte sich erst anläßlich unseres Unternehmens herausstellen. Es scheint kaum glaublich, aber wir acht sind Pioniere der Tiefenforschung! Die Kameraden aus den Reihen der Höhlen- und Karstforscher mögen mir diese überhebliche Bezeichnung verzeihen. Sicher, wir sind nur krasse Amateure, es mangelt uns an geeigneter Ausrüstung, wie Stahlseilleitern, Karbidlampen usw., aber unser Unternehmungsgeist mag beispielgebend sein.
Nicht zum erstenmal statte ich dieser interessanten Höhle einen Besuch ab, auch über Vermessungsarbeit bin ich im Bilde; habe ich doch vor gut einem Jahr in die betreffenden Pläne Einsicht genommen. Der beigelegte Bericht spricht von zwei Schächten, die nahe des Hauptganges in die Tiefe abbrechen. Mit der kurzen Feststellung, daß aus der Tiefe Wassergeräusche hörbar seien, endet er.
Nun bin ich im Frühjahr 1969 mit meinem bewährten Seilgefährten Walter Knezicek diesen Wassergeräuschen auf die Spur gekommen. Gemeinsam drangen wir in einer ungemein engen Kluft jenseits der Schächte steil abwärts. Nach zirka 20 Meter öffnet sich die Kluft zu einem niederen Gang, der unter die Schächte führt. Unter dem größeren der beiden endet er. Nach der anderen Richtung läßt er sich etwa 15 Meter weit verfolgen und schließt dann verstürzt. Der engere Schacht erlaubte uns dann den Aufstieg in den Hauptgang (Kletterschwierigkeit III). Mit dieser Unternehmung dachten wir alle Gänge der Höhle beim Spannagelhaus befahren zu haben. Die damals bekannte Gesamtlänge betrug 360 Meter.

Nun zu unserem Unternehmen 1970: Über tiefen Schnee (fast ein Meter, und das im Juli!) spuren wir die kurze Strecke zum Einstieg in die Höhle. Ein kurzer Abstieg bringt uns auf die berühmt-berüchtigte Geröllhalde am Höhleneingang. Ich sage »Geröllhalde«; eine Bierdosen-Konservenbüchsen-Halde ist das. Die Tafel »Naturdenkmal« scheint die (im übrigen vorbildlichen) Bewirtschafter des Spannagelhauses nicht davon abzuhalten, die Höhle als Abfallschacht zu benützen. Ein tieferliegender, zweiter Eingang erhält von uns die sinngemäße Bezeichnung »Salmonellenschluf«. Vorsichtig steigen wir ab. Im Schein unserer Taschenlampen dringen wir immer weiter, immer tiefer in diese Unterwelt. Von Lehm und Sand überlagerter Fels verleiht uns bald das Aussehen von Kaminfegern; unsere Begeisterung vermag das aber nicht zu dämpfen. Meist müssen wir gebückt gehen, hin und wieder auch einige Gangverengungen durchkriechen, trotzdem erreichen wir in kurzer Zeit das Hauptgangende, die »Halle der Vereinigung«.
Während wir eine kurze Rast einschalten, stöbert Hannes Jodl in einem offensichtlich blinden Gang weiter. Aufgeregt kommt er zurück: Der Gang weist eine befahrbare Fortsetzung auf. Alle Wetter, das stimmt! Ein ungemein enger Schluf (Postkastl) entläßt uns in ein neues Gangsystem. Ein historischer Augenblick: Ein wahres Labyrinth tut sich auf! An die hundert Meter verfolgen wir den neuen Gang aufwärts. Ein Seitenarm zweigt nach rechts ab (Elchschädelgang), aber wir bleiben der Hauptrichtung treu und verzichten darauf,  alle Gänge genau zu erkunden. Erscheint uns doch die eventuelle Entdeckung neuer Gangsysteme unerheblich gegenüber der Notwendigkeit, wieder ans Tageslicht zu finden. Unser (hoffentlich) gutes Gedächtnis erspart uns die Mitnahme eines Ariadnefadens. Ein senkrecht stehender, mächtiger Schild hemmt plötzlich unser Vordringen. Rechts schließt sich der Gang, aber links des Schildes scheint ein Weiterweg möglich. Rechtzeitig noch bremsen wir unseren Ehrgeiz: Diese Gangfortsetzung hat plötzlich keinen Boden mehr. Das heißt, Boden schon, nur 15 Meter tiefer. Die Vernunft und unser Mangel an geeignetem Material lassen nur noch die Umkehr offen. Ein Versuch aber ist uns doch gestattet: An der linken Felswand befindet sich ein niederer Raum (Dirndlkammer), zu dem eine kreisrunde Öffnung (Fensterl) Zutritt gewährt. Aber nach zwei Meter öffnet sich auch hier eine enge Kluft, die sich in geringer Tiefe mit der Kluft des Hauptganges vereinigt. Also zurück! Verfolgen wir eben den neuentdeckten Gang in die andere Richtung.
Die Abzweigung zum bekannten Teil der Höhle wird sorgfältig markiert, dann stoßen wir weiter vor ins Unbekannte. Meter um Meter steigen wir tiefer. Längst schon müssen wir uns erheblich unter dem Niveau des vermessenen Höhlenteiles befinden. Immer wieder wird unser Gang durch Stufen unterbrochen. Rundum glitzern die Wände vor Nässe. Wasser rauscht unter unseren Füßen. Ich kann mir diese Gänge lebhaft zu Zeiten der Schneeschmelze vorstellen. Blendend-weißer Sinter und zarte Tropfsteinbildungen zieren die Decke. Besondere Erwähnung verdienen auch die Stufen unseres Ganges: Jede dieser Stufen wird durch einen Tobel mit tief unterwaschenen Seitenwänden gebildet. Völlig glatt und kreisrund erscheinen sie wie das Innere einer Hohlkugel. Der Boden ist mit einer etwa dreißig Zentimeter hohen Sandschicht bedeckt, und mittendrin liegt jeweils eine nahezu fußballgroße, wie poliert wirkende Steinkugel eingebettet. Es braucht wenig Phantasie, sich auszumalen, daß die stürzenden Wasser jahrhundertelang diesen Stein im Kreis gewirbelt und so die Wände und den Stein selbst abgeschliffen hatten.
Ein besonders hoher Absatz veranlaßt uns, unser einziges mitgebrachtes Seil an einem (offensichtlich dazu) vorhandenen Steinzacken hängenzulassen: Der Rückzug bleibt gesichert! Weit über hundert Meter haben wir wieder zurückgelegt, das erfüllt uns mit Zuversicht. Dieser Gang scheint ohne Ende zu sein! Plötzlich öffnet sich vor uns ein riesiger Dom (Hannes Jodl-Dom). Gut dreißig Meter über uns befindet sich die Decke. Kaum, daß das Licht unserer Fokus ausreicht, diesen Raum auszuleuchten. Wir sind sprachlos (und das will etwas heißen!). Ein Nebengelaß des Domes weist einen nach unten offenen Schlot auf, der ebenfalls befahrbar sein dürfte. Aber die beschränkte Brenndauer unserer Lampen treibt uns weiter. Ein enger Durchschlupf läßt uns die Fortsetzung unseres Ganges erreichen. Nach etwa zwanzig Meter weitet sich wieder eine allerdings kleinere Halle (Dr.-Klaus-Karger-Halle). Hier scheint uns endgültig der Weiterweg verwehrt. Ein Versturz aus grob verkeilten Blöcken läßt wohl dem Wasser und auch unseren Blicken den Durchschlupf in die Gangfortsetzung jenseits der Barriere, aber das genügt uns nicht. Lange suchen wir vergebens. Endlich entdecken wir einen unglaublich engen Spalt (Knappenschluf). Kaum scheint ein durchkommen möglich. Kräftiges Ausatmen hilft aber auch hier: Platzangst unterdrückend, kommen wir durch. War bisher die Luft in den Gängen eher etwas abgestanden, macht sich nun hier eine deutliche Wetterführung bemerkbar. Ein steter, kühler Luftzug weht uns entgegen. Auch das Raunen und Gurgeln der kleinen Wassergerinnsel wird durch ein kräftiges Rauschen abgelöst. Was mag da auf uns warten?

Fünfzehn Meter weiter erhalten wir Antwort auf unsere Fragen. Unser Gang senkt sich steil zur Tiefe, wird unbegehbar. Aber ein an der linken Wand entlangführendes Band erlaubt uns, weiter vorzudringen. Ich habe nun schon den Hannes Jodl-Dom als riesig bezeichnet. Hier aber fehlen mir fast die Worte. Kein Superlativ wäre zu vermessen, um diesem ungeheuren Raum gerecht zu werden. Ja, ungeheuer, großartig, überwältigend; all das ist zutreffend, aber dennoch ein ungenügender Versuch, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Auch der konzentrierte Schein unserer Lampen vermag diesen Raum nicht auszuleuchten. Fast selbstverständlich finden wir den einzig passenden Namen dieses Raumes: ÖTK-Halle! (Zählen doch die Tuxer Berge zum Arbeitsgebiet unseres Klubs.) Die von uns durchgeführte Steinfall-Lotung läßt uns bis zum ersten Aufprall eine Tiefe von 45 Meter (drei Sekunden) errechnen. Aber der Stein stürzt weiter und weiter, verliert sich dann im Rauschen der ringsum einstürzenden Wasser. Wie tief mag das hier wohl sein? Wo liegt der Ausgang aus diesem Labyrinth? Offenbar warten hier weitere große Höhlenteile der Entdeckung, allzu stark ist hier die Wetterführung. Ja, man müßte dem Wasser Farbstoff zusetzen und beobachten, wo das also gekennzeichnete Wasser ans Tageslicht tritt. Man müßte, man könnte, man sollte . . .
All das bleibt hypothetisch für uns. Wir können nur schauen und staunen. Einer Gruppe von berufenen Höhlenforschern warten hier große Aufgaben. Vielleicht bietet mein Bericht einen Anreiz zur weiteren Erforschung und Vermessung? Wir aber stehen hier mit leeren Händen – uns bleiben nur der Rückweg und eine Reihe neuer ungelöster Fragen.
Zurück die endlosen Gänge, die Abzweigung, der alte Hauptgang, vorbei an den beiden Schächten – endlich der Salmonellenschluf, und dann: das Tageslicht! Grell blendet es die Augen. Schmerzendes Weiß ringsum – der Schnee. Sieben Stunden waren wir in der Unterwelt, nun hat uns die Erde wieder. Einheitlich ist unsere Kleidung, verschmiert sind die Gesichter: Eine dicke Lehmschicht verdeckt alle Unterschiede! Dienen wir auch den zurückgebliebenen Kameraden zum Gespött, was kümmert uns der Schmutz, wir haben Neuland gefunden, und das allein zählt!

Spannagelhöhle1970

Die Teilnehmer der Höhlenfahrt: Traudl Kattinger, Karin Pfeifer, Hannes Jodl, Dr. Klaus Karger, Dr. Peter Scheimbauer, Günther J. Wolf, alle ÖTK Wien, und Othmar Mixa mit seinem Freund, beide Angehörige der ÖGV-Jugend.

– Österreichische Touristen Zeitung, 84. Jahrgang, 1971