Zeit lassen . . . (4)

Auszüge aus dem Roman-Fragment

Schule! Ich wurde also eingeschult. Österreich war nach dem verlorenen Krieg vierfach besetzt (Engländer, Franzosen, Amerikaner und Sowjets), aber wir Kleinen merkten kaum etwas davon. Die fremden Soldaten waren freundlich zu uns Kindern und stellten keine Bedrohung dar. Aber die Schule! Ich wurde sorgfältig auf diesen neuen Lebensabschnitt vorbereitet: “Jetzt fangt der Ernst des Lebens an“, „Du wirst schaun, jetzt geht’s in an andern Ton“, „Da werden dir die Flausn vergehn“, „Da wird dir allerhand ausgetrieben“, „Da werdns dir die Wadln firerichtn“! Mit diesen tröstlichen Worten versehen, wurde ich in die Volksschule auf dem Mildeplatz geschleppt. Die Klasse zu betreten, die riesige schwarze Tafel zu sehen, das genügte. Nichts wie weg. Die Stiegen hinunter, raus aus der Schule und laufen, laufen, laufen. Und meine Mutter hinter mir her: „Halts ihn auf, halts ihn auf“!

Also doch Schule. Es blieb mir keine Wahl. Oft denke ich mir, dass ein stumpfer Geist sich eher fügt. Zu erfahren, zu wissen, wozu ich etwas tun sollte, war mir stets wichtig. Den Sinn und Zweck dieser Art Schule konnte mir weder damals noch später irgendjemand erklären. Weder Eltern noch Lehrer. Das heißt, sie versuchten es erst gar nicht. Das ist eben so, das muss sein. Schluss, aus, basta. Wenn ich auch nur den Versuch des Aufbegehrens machte, gab es Schläge. Heute spricht man mit seinen Kindern, erklärt Zusammenhänge und diskutiert auch heikle Themen mit aller Offenheit. Was nun mich betrifft: ich war der ewigen Schläge überdrüssig. Ich hatte mir wenig vorzuwerfen und verstand oft nicht, wofür ich geschlagen wurde. Und unter Schlägen musst du dir vorstellen, dass nicht nur Kochlöffel auf meinem Rücken zerbrachen, sogar ein Pracker (so nannte man die Teppichklopfer) zerfaserte mit der Zeit. Das war schon Folter. Heute, in normalen Familien, etwas völlig Unvorstellbares. Wer so etwas dennoch tut, wandert ins Gefängnis. Stets wurden mir andere, der Mutter bekannte Schulkinder, als Vorbilder hingestellt. Dass diese in harmonischeren Verhältnissen aufwuchsen, schien ihr allerdings nicht klar zu sein. Und ewig hing das Damoklesschwert über mir: „Ich steck’ dich noch ins Heim“! Aber jede Drohung, die zu oft wiederholt wird, verliert ihre Schrecken. Bei manchen Anlässen, wo mir später, viel später, meinen eigenen Kindern gegenüber, eine kurze Zurechtweisung völlig ausreichend erschien, konnte meine Mutter stundenlang gebetsmühlenartig ihre Vorwürfe immer und immer wieder repetieren. Und: „Mei Hansi hat sterben müssn, und so was wie du . . .“, „Ich hätt dich solln in die Donau tragen“, „Dich hat ja der Esel im Galopp verlorn“. Schön, nicht wahr? Ja, nun wollte ich ins Heim.

Eines Tages ging ich nach Schulschluss nicht nach Hause, sondern zur Jugendfürsorge. „Bitte, ich halte es zu Hause nicht mehr aus!“ Meine Mutter wurde vorgeladen und eine Lösung gefunden, die mich positiv überraschen sollte. In Heiligenstadt, im Karl-Marx-Hof, gab es ein, von den Amis eingerichtetes Institut für Erziehungshilfe. Zwei Abende pro Woche musste ich nun von Ottakring nach Heiligenstadt pendeln. Mein erster Betreuer war ein Dr. Wurst. Ich habe ihn sehr lieb gewonnen. Hier erlebte ich wie es sein könnte, wie harmonisch das Leben gestaltet werden kann. Nachdem Dr. Wurst ausschied (Pension), kam ich zu seiner Nachfolgerin, der Frau Salman. Auch sie hatte Kinder ganz einfach gern. Das alleine aber war es nicht. Etwas viel Wichtigeres noch: Es gab sogenannte Bastelstunden. Hier konnte ich all das in spielerischer Form erlernen, das es wohl in vielen funktionierenden Familien ohnehin gab. Etwa Zeichnen oder, was ich noch lieber tat, Linolschneiden. Wenn ich meine Linolschnitte ausdruckte, merkte ich sehr schnell, worauf ich zu achten hatte, um ein annehmbares Ergebnis zu erzielen. Mag sein, dass bereits damals der Grundstein für meinen späteren Berufswunsch gelegt wurde. Ich weiß nicht, womit die anderen Kinder beschäftigt wurden; – wir sahen einander nur im Warteraum. Für mich gab es stets etwas mit kreativem Hintergrund zu tun. Aus Modellierton fertigte ich Handpuppenköpfe. Es durfte kein Kopf fehlen: Kasperl, Krokodil, Sepperl, Großmutter, König, Prinzessin, Räuber und Hexe. Gebrannt wurden die Köpfe leider nicht, aber bunt bemalen durfte ich sie. Die Kleider dazu, aus Stoffresten gefertigt, gelangen mir nicht so gut. Aber das war nicht weiter wichtig. Die liebevolle Betreuung, die Förderung, das war es, was mich begeisterte. Zuhause verlief natürlich alles wie gehabt. Erst viel später erkannte ich, dass es eigentlich Mutter war, die therapeutischer Hilfe bedurft hätte.

Nachdem ich schon lange von Frau Salman abgenabelt war, besuchte Mutter noch viele Jahre Frau Salman, und nachdem diese bereits in Pension war, weiterhin in deren Haus. Als Frau Salman beerdigt wurde, erfuhr ich nichts davon. Ich war schon etliche Jahre verheiratet und bereits Vater, als Mutter mir dies mitteilte. Gerne hätte ich Frau Salman die letzte Ehre erwiesen, aber leider . . . Ich habe es Mutter lange nicht verziehen, dass sie mir das verheimlichte. Jedenfalls hat mir das Institut einen gänzlich anderen Zugang zum Lernen vermittelt. Dass ich heute über das Lernen, das lebenslange Immer-weiter-Lernen, anders denke, hat mit der offiziellen Art Schule nichts zu tun. Rückblickend denke ich, dass die Lehrpläne ganz einfach schlecht waren, und die Lehrer ihr Pensum mehr oder weniger lustlos abspulten. Allerdings hat sich im Schulwesen mittlerweile manches zum besseren gewandelt.

Wie alles begann

40 Jahre Bergsteigergruppe im Österreichischen Touristenklub

Zum besten Klub; oder Verein, oder wie immer Du das nennen willst, kommt man oft durch verquere Art. Drei waren wir damals. Gerhard Kvicien, Helmut Meder und ich. Schulkollegen aus der »Graphischen«. Klettern wollten wir. Jung und unbeleckt, schien uns alles möglich.

Was wir später in den Bergen unternahmen, taten wir wohl leichten Sinnes; damals aber waren manche Freunde leichtsinnig.

Unter dem Hochkogelhaus (Straßenbahner Hütte) der Hohen Wand, brechen Steilwände ab. So harmlos ist die Hohe Wand nicht. Helmut und ich versuchten einen neuen Weg zu finden. Unser Dritter, der Gerhard lachte uns nur aus. Er kletterte rechts von uns auch auf neuem Wege. Ungesichert. Dass sein Griff ausbrach, dass wir in unserem Nichtwissen nicht sofort reagieren konnten, sei unserer Unerfahrenheit und unserer Jugend anzulasten.

Aber, dass wir zumindest das Abseilen beherrschten, rettete Gerhard vielleicht sogar das Leben.

Da lag er nun. Tief unter uns. Bewusstlos. »Bleib stehen!«, rief ich ihm noch hinterher. Doch er hörte mich nimmer.

Am Hochkogelhaus riefen wir die Rettung. Mit einer Trage holten der Hüttenwirt und wir unseren Freund zur Hochfläche.

Helmut fuhr, völlig geschockt, sofort nach Hause. Mir blieb nur noch eines zu tun: mit der Rettung nach Wiener Neustadt ins Spital mitzufahren, seine Wohnungsschlüssel an mich zu nehmen, die Wohnung seiner Eltern aufzusperren – und: auf seine Eltern zu warten.

Ich habe keine Feinde – aber selbst, wenn ich welche hätte, niemandem wünschte ich, den heimkehrenden Eltern mitteilen zu müssen, dass ihr Sohn im Koma liegt. Belogen habe ich sie natürlich auch. Erkläre einem alten Hasen, wie Gerhards Vater, dass sein Sohn »nur« dreißig Meter abgestürzt ist (ein dreistöckiges Haus misst etwa 12 Meter), obwohl Gerhard erst nach rund achtzig Metern an einem Baum zerschellte . . .

Gerhards Mutter versuchte, tapfer zu sein.

Sofort mit dem Taxi ins Spital. Blutspenden. Auch Gerhards Vater ist mit »0 neg.« Allesspender. Die Verletzungen, die Gerhard erleiden musste, waren erschreckend: Platzwunden, Gehirnprellung, Nierenquetschung, Fraktur des Steißbeins, beide Arme gebrochen. Es war ganz einfach alles ganz grauslich.

Die Genesung schritt nur zögernd voran. Es dauerte entsetzlich lange, bis Gerhard wieder denken konnte. Mit dem Klettern war es aber vorbei. Nach einigen gemeinsamen Klettereien (Raxalpe, Blechmauernriss und Schneeberg, Richterweg) war ich mit Helmut nur noch in den Lienzer Dolomiten und in den Zillertaler Alpen. Danach habe ich auch ihn aus den Augen verloren.

Herbst wurde es. Ich musste wieder hinaus. Schon der Felsgeruch kann Dich wukki machen. Um böse Träume zu verwischen, nahm ich mein Seil und entdeckte neue Abseilfahrten auf der Hohen Wand. So neu wiederum auch nicht. Die hat der Domprälat Alois Wildenauer schon vor langem entdeckt. Auch einige versicherte Steige konnte ich erklettern.

Müde schon, kehrte ich in der Wilhelm-Eichert-Hütte ein. Welch ein lustig’ Treiben herrschte da. Abschlussfeier der Bergsteigerschule des ÖTK. »Was bitte ist das, ÖTK?«. Aufgeklärt wurde ich sehr schnell. Gerhard Schirmer und Hermann Schindler, beide damals Angehörige der Jungmannschaft, entführten mich ins »Schmauswaberlhaus«, die Zentrale des Österreichischen Touristen-Klubs. Bäckerstrasse 16. Danke!

Jetzt hatte ich meine Heimat gefunden. In einem Kreis bergbegeisterter Mädel und Burschen fühlte ich mich vom ersten Klubabend an wohl. Das war es, was mir bisher gefehlt hatte. Dazu kamen noch die demokratischen Grundsätze. Alle vier Jahre wurde der Jungmannschaftsleiter gewählt. Der erste, den ich kennenlernte, war »Biwako« Pauli Lhotka. Obzwar er, aufgrund einer Polioerkrankung, ein atrophiertes Bein hatte, unternahm er mit seinem Partner Walter Gstrein die extremsten Touren. Ihm folgte Heli Drachsler, der allerdings aus Zeitmangel (Abendstudium) die Leitung wieder abgeben musste. Ich hatte mich mittlerweile so in die Gemeinschaft integriert, dass ich zum nächsten Jungmannschaftsleiter gewählt wurde. Das blieb ich auch bis zur Gründung einer eigenen Familie.

Kein Wochenende verging ohne Kletterfahrten. Da viele unserer Gruppe schon sehr erfahrene Bergsteiger waren, gewann ich schnell an Sicherheit und Können. Die Tüchtigsten wurden in die Klub-Elite, die Bergsteigergruppe, aufgenommen. Das war auch mein Ziel.

War mir Hermann Schindler der erste wirkliche Kletterpartner, so führte mich Gerhard Schirmer in die geheimnisvolle Welt der Höhlen ein. Und BG-Kamerad Erich Vanis machte mir Eistouren schmackhaft.

Mit wechselnden Partnern und Partnerinnen wurden viele Touren unternommen. Karl Kosa war es dann, mit dem mir die extremsten Klettereien gelangen: auf den Hausbergen, im Gesäuse, Wilden Kaiser, Hochschwab, Dolomiten.

Mit Walter Knezicek und Erich Vanis verbrachte ich eine unvergessliche Woche im Argentiere-Kessel des Mont Blanc. Schartenspitzkante (Hochschwab) und Triglav-Nordwand (Julische Alpen) folgten.

Aber man wird älter, die Wertigkeiten verschieben sich. Beruf, Familie, Kinder bedürfen nun der Zeit, die vormals so sorgenlos in den Bergen verbracht wurde.
Ja, man hält schon noch Kontakt, aber sonst . . .

Nun bin ich schon Pensionist, genieße diese neue Freiheit und die Tatsache, dass sich verlorengeglaubte Freunde wieder melden.

Nun, das waren 40 wundervolle Jahre in der BG des ÖTK, der noch die Zeit in der JM hinzugerechnet werden sollte. Ich hoffe, dass mir noch etliche Jahre vergönnt sein mögen . . .

Zeit lassen . . . (3)

Auszüge aus dem Roman-Fragment

Damals gab es erstmalig die Institution der Sozialfürsorge. Von dieser Fürsorge bekam ich abgetragene Kleidung, die rundum zu groß war. Ich war ja völlig unterernährt. Ich wurde damit vertröstet, dass das G’wand zum Hineinwachsen sei. Eine lächerliche Behauptung. Bis man groß genug war, um hineinzupassen, war diese Kleidung meist schon zu Ausreibfetzen geworden. Ein Wort wie Mode war völlig unbekannt. Die obligate Knabenbekleidung bestand aus Leibchen, Hemd, kurzer Hose, langen Strümpfen mit Strumpfbandhalter und hohen Schnürschuhen mit Ledersohlen. Im Winter kamen noch Pullover, Jacke, Schirmkappe und Keilhose dazu. Die Schuhe wurden mit Tschernken trittfest gemacht.

Einen Vorteil hatten die Ledersohlen, man konnte bei Schneelage herrlich Schleifen aufreißen. Mutprobe und gute Gleichgewichtsübung in einem. Auf den Schleifen wurden oft erstaunliche Geschwindigkeiten erzielt.

Kurze Zeit kam ich noch in einen Kindergarten, da Mutter natürlich arbeiten musste. Wieder dasselbe Dilemma wie mit Vater. Als ungelernte Kraft musste sie nehmen, was es eben an Arbeit gab. Und das war sehr, sehr wenig. Mit Mühe bekam sie Beschäftigung in einem kleinen Metallverarbeitungsbetrieb am Johann-Nepumuk-Berger-Platz in Ottakring. Als Stanzerin. Aus Blechstreifen wurden verschiedene Formen ausgestanzt und man musste sehr schnell und hochkonzentriert sein, um seine Finger zu behalten. Das gelang nicht allen. Verstümmelungen musste man eben in Kauf nehmen. Mutter hatte Glück. Heute gibt es raffinierte Schutzvorrichtungen, oder überhaupt vollautomatische Maschinen. Aber selbst das alles schützt nicht wirklich vor möglichen Unfällen. Wer das Pech hatte, arbeitsunfähig zu werden, hatte tatsächlich Pech in mehrfacher Hinsicht. Genoss er nicht den Schutz einer Familie, blieb ihm nur noch das Betteln oder Hausieren.

Bettlern, die an die Wohnungstüren klopften, stellte man üblicherweise einen Teller Suppe auf die breiten Fensterbretter des Stiegenhauses, oder man erübrigte einige wenige Groschen. Den Hofsängern, die oft mit einer Gitarre unterwegs waren, warf man in Zeitungspapier gewickelte kleine Beträge aus den Wohnungsfenstern zu. An Hausierern gab es den Rastelbinder, der gegen geringes Entgelt durchlöcherte Reindeln wieder dicht machte. Dann noch den Scheren- und Messerschleifer. Sie alle klapperten die Häuser ab, denn niemandem wäre es eingefallen, selbst einen Professionisten aufzusuchen, der ein Vielfaches dessen, was ein Hausierer bekam, verlangt hätte. Und schließlich gab es noch den Fetzen-Baner-Mann, dem man zerschlissene Kleidung und Knochen aus Speiseresten mitgab.

Viele Berufe, die den Menschen dieser Zeit Arbeit und Brot gaben, existieren heute nicht mehr. All das, was du heute in einem Einkaufsgang im Supermarkt erhältst, musstest du damals mühselig in den verschiedensten Geschäften zusammenholen. Da gab es den Fleischhauer, den Pepihacker (Pferdeleberkäse schmeckte mir am besten), den Kräutler, den Greißler, die Zuckerltant und noch die Milchfrau, die selbst am Sonntagmorgen für zwei Stunden ihr Geschäft geöffnet hielt. Eiskästen gab es damals noch nicht, und die Milch wurde mit Milchkanndeln geholt. Die Milchfrau schöpfte aus einem Bottich mit Seichtern, das sind Schöpfgefäße von einem achtel Liter, viertel Liter bis zu einem halben Liter, die Milch in die mitgebrachten Ein-Liter-Kannen. Sonntags musste Milch erhältlich sein, denn Eiskästen, – siehe oben. Die reicheren Leute hatten wohl eine mit Blech ausgeschlagene Kiste, in die Blockeis hineinkam, das die Lebensmittel doch einige Zeit frisch hielt. Dazu kam wöchentlich zweimal der Eismann vorbei, der auf der Gasse eine Glocke läutete, damit die Leute frisches Eis zur Kühlung ihrer Vorräte kaufen konnten. Dieses Blockeis wurde in der Eislaufhalle Engelmann in der Jörgerstrasse im 17. Bezirk, in Hernals, erzeugt.

Zeit lassen . . . (2)

Auszüge aus dem Roman-Fragment

 Die Lehrer der Nachkriegszeit waren seltsame Pädagogen. Sie disziplinierten die Schüler durch Angst: „Wer von euch schlimm ist, kommt in die Heimschule!“ Da war es wieder, das gefürchtete Wort Heim. Einen Schlimmen hatten wir in der Klasse, den Brandstätter-Maxi. Mir blieb er als zwar frecher, aber aufgeweckter Bub in Erinnerung, den ich für seine Respektlosigkeit gegenüber den Respektspersonen insgeheim bewunderte. Er kam in die Heimschule. Dass das aus wirtschaftlichen Erwägungen sein musste, wurde nie erwähnt. „Denkts an den Maxi!“ – und schon waren alle kusch . . .

Du merkst schon, worauf das hinaus will. Das Settlement wurde geschlossen, ich kam in die Heimschule. Ach, war das eine Strafe! Immer so gestraft zu werden, hätte mein Leben glücklicher gestaltet. Kein militärisches Habt-acht-Stehen vor Unterrichtsbeginn, kein Hände-auf-die-Bank, kein sinn-entleertes Gebet vor der Schulstunde. Und: eine gemischte Klasse. Sehr einfühlsame Lehrer und Lehrerinnen, die engagiert die Vision einer neuen Schule verwirklichen wollten. Ich sah mich in einen fast unglaublichen Schulalltag versetzt.

Das Schönste war aber das Ferienlager Ende der vierten Volksschulklasse am Kärntner Turnersee. Dort verbrachten wir vier herrliche Wochen. Und immer wurde etwas unternommen. Eine Nachtwanderung rund um den See etwa. Oder Nacktbaden, Mädchen und Buben bunt gemischt. Etwas ganz Undenkbares. Was haben wir uns geschämt. Wurden wir doch zuhause völlig verklemmt aufgezogen. Allerdings hielt die Neugier der Scham etwas die Waage.

Es folgte noch eine lange Wanderung zu einem Wasserfall, der sich tatsächlich aus einem kreisrunden Loch in einer Felswand in ein natürliches Becken ergoss. Die letzten Meter zu diesem Becken mussten wir emporklettern. Dazu bedurfte ich der Hilfe eines Lehrers. Offenbar schloss mich meine Ungeschicklichkeit vom Zeltlager aus, das am Ufer des Turnersees aufgebaut wurde. Neun Tipis standen im Kreis um einen Fahnenmast und die Lagerfeuerstelle. Die Nichtzeltler durften natürlich ebenfalls am Lagerleben teilnehmen, nur schlafen mussten sie im Haus. Wie aufregend war das alles. Abzugsgräben um die Zelte wurden gezogen, falls es regnen sollte (das hatte es ja dann auch), Blumenbeete zu beiden Seiten der Zelteingänge hatten angelegt zu werden, und jede Zeltgemeinschaft versuchte mit uns, ihren Helfern, die anderen zu übertrumpfen. Allmorgendlich gab es mit Trompetensignal eine Fahnenparade, und abends scharten wir uns rund ums Lagerfeuer und sangen. Als schönstes Lied blieb mir „Kein schöner Land in dieser Zeit“ in Erinnerung. Erst sehr viel später erkannte ich, dass ich tatsächlich im schönsten, sichersten und liebenswertesten Land dieser unserer Erde leben darf.

Ich habe mich oft gefragt, was mich wohl dazu konditionierte, Bergsteiger zu werden. Sicher war ein Ansporn das Buch „Bergler, Bauern, Kameraden“, in dem Kurt Maix eine Biwaknacht in der Hochtor-Nordwand beschreibt, auch die Abbildung einer Abseilfahrt im Jugendlexikon „Die Welt von A bis Z“ mag dazu beigetragen haben. Ganz sicher aber meine kläglichen Kletterversuche beim Wasserfall und mein Ausschluss vom Zeltlager.

Nicht, dass ich mich schämte, aber ich empfand es als Makel. Ich könnte wetten darauf, dass kein einziger der damaligen Teilnehmer je wieder in einem Zelt genächtigt hat, geschweige denn geklettert wäre. Nun, beidem und manch anderem, das mit den Bergen in Zusammenhang steht, verdanke ich meine größten Abenteuer. Vielleicht klingt es ein wenig abgehoben, aber die Flamme der Sehnsucht nach der Natur und dem Erleben in der Natur, ist, einmal entflammt, nie wieder in mir verlöscht.

Zeit lassen . . .

Auszüge aus dem Roman-Fragment

Am 7. Juni 1941 wurde ich im Wilhelminenspital in Wien-Ottakring geboren. Das erste Lebensjahr jeglichen Menschen vergeht ja völlig erinnerungslos. Das Erinnern, und zwar so genau, als wär’s erst gestern gewesen, setzte ein, als ich bewusst die Sirenen und im Volksempfänger den Kuckuck als Warnung vor Bomberverbänden der Alliierten, wahrnahm. In Wien lebten zu dieser Zeit hauptsächlich alte Frauen und junge mit ihren Kindern sowie einige Männer, die für den Kriegsdienst unbrauchbar waren. Dazu mussten sie aber schon sehr alt und/oder krank sein. Alle anderen waren ja, undank der Generalmobilmachung einrückend gemacht worden.

Mag sein, dass ich mir damals die Gelassenheit und Contenance erworben habe, die mich nur selten im Stich ließ, aber in manch prekärer Situation die richtige Entscheidung erst ermöglichte…

Diese Nervosität, ja Hektik bis hin zur Hysterie, in die damals alle Frauen in unserem Haus ausnahmslos ausbrachen, wird mir auch heute noch vollends unverständlich bleiben. Den Bomben bist du ja völlig hilflos ausgeliefert. Ich verstünde noch, wenn die Christen geflucht und die Heiden gebetet hätten; – aber Panik verunmöglicht jegliches rationale Denken und Handeln. Ich weiß noch, dass wir Kleinen, der Seidelböck-Helmut, der Negerle-Peter der Chmela-Horsti und die Novotny-Buben in den Keller getragen wurden. Hier wurden wir in Decken gewickelt und in Waschtröge gelegt. Wir hätten sicher geschlafen. Trotz der bald ferner, bald näher einschlagenden Bomben. Aber die Frauen schrieen sich bei jedem Einschlag die Seele aus dem Leib. Verständlich, dass auch wir Kleinen mit Gebrüll einstimmten. In einer derartigen Situation hülfe tatsächlich nur Gelassenheit.