Zeit lassen . . . (2)

Auszüge aus dem Roman-Fragment

 Die Lehrer der Nachkriegszeit waren seltsame Pädagogen. Sie disziplinierten die Schüler durch Angst: „Wer von euch schlimm ist, kommt in die Heimschule!“ Da war es wieder, das gefürchtete Wort Heim. Einen Schlimmen hatten wir in der Klasse, den Brandstätter-Maxi. Mir blieb er als zwar frecher, aber aufgeweckter Bub in Erinnerung, den ich für seine Respektlosigkeit gegenüber den Respektspersonen insgeheim bewunderte. Er kam in die Heimschule. Dass das aus wirtschaftlichen Erwägungen sein musste, wurde nie erwähnt. „Denkts an den Maxi!“ – und schon waren alle kusch . . .

Du merkst schon, worauf das hinaus will. Das Settlement wurde geschlossen, ich kam in die Heimschule. Ach, war das eine Strafe! Immer so gestraft zu werden, hätte mein Leben glücklicher gestaltet. Kein militärisches Habt-acht-Stehen vor Unterrichtsbeginn, kein Hände-auf-die-Bank, kein sinn-entleertes Gebet vor der Schulstunde. Und: eine gemischte Klasse. Sehr einfühlsame Lehrer und Lehrerinnen, die engagiert die Vision einer neuen Schule verwirklichen wollten. Ich sah mich in einen fast unglaublichen Schulalltag versetzt.

Das Schönste war aber das Ferienlager Ende der vierten Volksschulklasse am Kärntner Turnersee. Dort verbrachten wir vier herrliche Wochen. Und immer wurde etwas unternommen. Eine Nachtwanderung rund um den See etwa. Oder Nacktbaden, Mädchen und Buben bunt gemischt. Etwas ganz Undenkbares. Was haben wir uns geschämt. Wurden wir doch zuhause völlig verklemmt aufgezogen. Allerdings hielt die Neugier der Scham etwas die Waage.

Es folgte noch eine lange Wanderung zu einem Wasserfall, der sich tatsächlich aus einem kreisrunden Loch in einer Felswand in ein natürliches Becken ergoss. Die letzten Meter zu diesem Becken mussten wir emporklettern. Dazu bedurfte ich der Hilfe eines Lehrers. Offenbar schloss mich meine Ungeschicklichkeit vom Zeltlager aus, das am Ufer des Turnersees aufgebaut wurde. Neun Tipis standen im Kreis um einen Fahnenmast und die Lagerfeuerstelle. Die Nichtzeltler durften natürlich ebenfalls am Lagerleben teilnehmen, nur schlafen mussten sie im Haus. Wie aufregend war das alles. Abzugsgräben um die Zelte wurden gezogen, falls es regnen sollte (das hatte es ja dann auch), Blumenbeete zu beiden Seiten der Zelteingänge hatten angelegt zu werden, und jede Zeltgemeinschaft versuchte mit uns, ihren Helfern, die anderen zu übertrumpfen. Allmorgendlich gab es mit Trompetensignal eine Fahnenparade, und abends scharten wir uns rund ums Lagerfeuer und sangen. Als schönstes Lied blieb mir „Kein schöner Land in dieser Zeit“ in Erinnerung. Erst sehr viel später erkannte ich, dass ich tatsächlich im schönsten, sichersten und liebenswertesten Land dieser unserer Erde leben darf.

Ich habe mich oft gefragt, was mich wohl dazu konditionierte, Bergsteiger zu werden. Sicher war ein Ansporn das Buch „Bergler, Bauern, Kameraden“, in dem Kurt Maix eine Biwaknacht in der Hochtor-Nordwand beschreibt, auch die Abbildung einer Abseilfahrt im Jugendlexikon „Die Welt von A bis Z“ mag dazu beigetragen haben. Ganz sicher aber meine kläglichen Kletterversuche beim Wasserfall und mein Ausschluss vom Zeltlager.

Nicht, dass ich mich schämte, aber ich empfand es als Makel. Ich könnte wetten darauf, dass kein einziger der damaligen Teilnehmer je wieder in einem Zelt genächtigt hat, geschweige denn geklettert wäre. Nun, beidem und manch anderem, das mit den Bergen in Zusammenhang steht, verdanke ich meine größten Abenteuer. Vielleicht klingt es ein wenig abgehoben, aber die Flamme der Sehnsucht nach der Natur und dem Erleben in der Natur, ist, einmal entflammt, nie wieder in mir verlöscht.